Fr, 9. Mrz 2012
JENNIFER ROSTOCK
Jahr Nummer 4, Album Nummer 3. Gefühlt sind die letzten Takte von „Kopf oder Zahl“ beim Bundesvision Song Contest 2008 gerade erst verklungen, doch JENNIFER ROSTOCK haben sich längst als feste Größe in der deutschen Musiklandschaft etabliert. Das kratzbürstig-burschikose Debüt „Ins offene Messer“ sowie der augenzwinkernd-epische Nachfolger „Der Film“ meisterten ihren Weg in die oberen Chartsregionen, ohne dass die Band dabei jemals etwas an Glaubwürdigkeit einbüßen musste. Man spielte sich seinen Weg von Spelunken mit 3 zahlenden Gästen bis ans Brandenburger Tor vor 1,5 Millionen Zuschauer. Der Arbeitseifer und die Begeisterung der Band sind dabei immer noch ungebrochen, mehr als 300 Bühnen wurden im Laufe der letzten Jahre begattet. Währenddessen wurde nebenbei noch TV Total beehrt, MTV Home beglückt, beim Perfekten Promi Dinner gespeist, krachexklusiv der deutsche Soundtrack von „Twilight – New Moon“ verziert, Brasilien im Auftrage des Goethe-Instituts bespielt, jeder Moshpit auf allen namenhaften deutschen Festivals angeheizt, Supportshows vor Udo Lindenberg und Billy Idol abgefeiert und eine selbstverständliche Medienpräsenz zwischen Punk-Fanzine bis hin zur BRAVO erreicht. Und sonst? Unter anderem 2 Nominierungen für den GEMA-Autorenpreis, sowie die Einslive-Krone. Vieles scheint gegensätzlich in der jungen Historie der Wahlberliner, fügt sich aber, wie auch die Musik selbst, verquer doch gesund ins Gesamtbild. Nach Abschluss des Festivalsommer 2010 zogen sich Jennifer (Gesang), Joe (Keyboard), Alex (Gitarre), Chris (Drums) und Christoph (Bass) vom exzessiven Tourleben in eine mehrmonatige Songwritingphase zurück, um sich erstmals völlig und ausschließlich auf den Kreativprozess als solches zu konzentrieren. Dabei hat die Band intensiv wie nie zuvor zusammengearbeitet, um den Einfluss jedes einzelnen Bandenmitglieds zur Geltung kommen zu lassen. Das Ergebnis hat dabei absolut nichts mit einer Kompromisslösung zutun: Noch nie so Punk, noch nie so elektronisch, noch nie so eingängig, noch nie so JENNIFER ROSTOCK. Mit Haut und Haar. Um den entstanden Songs letztendlich auch das verdiente Klanggewand zu verpassen, scheuten die Rostocks weder Kosten, Mühen noch Flugängste: man wurde fündig auf der anderen Seite des Atlantiks, die Wahl fiel auf Produzent Chris Badami (The Dillinger Escape Plan, The Early November, Midtown). Der Neujahrskater wurde schnellstmöglich verdrängt und noch am 2.1.2011 bestieg die Band den Flieger. 6 Wochen lang feilte man vor den Toren New Yorks am perfekten Sound, um nun endlich mit Bassdrum und Trompeten das epochale Endergebnis vor die Massen zu schleudern. Schon der Opener „Der Kapitän“ knallt mit einer bisher ungekannten Wucht in die Gehörgänge und rechnet mit der allgemeinen Unkultur der Musikindustrie ab. Im direkten Anschluss wird der Hörer mit einer noch mächtigeren Gitarrenwand überfahren: „Es war nicht alles schlecht“ sprengt alle bisherigen Soundrahmen der Band und gipfelt am Ende gar in einem Gastpart von Hardcore-Sänger Nico Webers („War from a Harlot’s Mouth“). Damit ist die Experimentierfreude der Band noch lange nicht am Ende angelangt, in den folgenden Songs, besonders im monsterhittigen „Mein Mikrofon“, gehen JENNIFER ROSTOCK an ihre elektronischen Grenzen, inspiriert durch ihre Ausflüge im endlosen Berliner Nachtleben. Auf Balladen im klassischen Sinne wurde diesmal gänzlich verzichtet, doch auch für die ganz großen Gefühle und dem damit verbundenen Tanz auf dem Drahtseil der Hoffnung („Ich kann nicht mehr“, „Zwischen Laken und Lügen“) ist auf „Mit Haut und Haar“ genug Platz. Und all das, was die Fans bisher an der Band liebten, ist selbstredend weiterhin Bestandteil des großen Ganzen. Die Texte sind dreizehnschneidige Schwerter, die Gitarren am Anschlag verzerrt und am Ende trifft man sich auf der Tanzfläche.